Was Fotografien über den deutsch-französischen Krieg 1870/71 erzählen


Als Frankreich und Deutschland 1870 Krieg führten, waren die Möglichkeiten der Bildtechnik noch beschränkt. Trotzdem entstanden damals Aufnahmen, die tief ins Befinden der beiden Kriegsparteien blicken lassen.

Nichts hatte darauf hingedeutet, dass André Adolphe-Eugène Disdéri unser Bild von der Welt verändern würde. Als Handelsreisender war der Franzose genauso erfolglos wie als Wäschefabrikant, und noch schlechter erging es ihm als Strickwarenhändler  - mit einem entsprechenden Geschäft musste er um 1846 Konkurs anmelden. Der Glücklose verließ Paris und versuchte sich auf einem neuen Feld: In Brest und Nizza begann sich Disdéri mit der Fotografie zu beschäftigen.

Erst wenige Jahre zuvor, im August 1839, hatte sein Landsmann Louis Daguerre das erste kommerziell nutzbare fotografische Verfahren in die Öffentlichkeit gebracht. Seither waren an vielen Orten Fotografen aktiv geworden, aber die neue Technik war kompliziert und folglich auch teuer. Während Gelehrte, Künstler und Leute der wohlhabenden Elite früh schon mit der Fotografie in Berührung gekommen waren, hatte die kleinbürgerliche Mehrheit bis in die 1850er Jahre kaum einen Zugang zu dem neuen Medium.

Das aber änderte sich mit Disdéri. Zurück in Paris, eröffnete er 1854 ein Atelier am Boulevard des Italiens und bot dort etwas völlig Neues an: Fotografien im Kleinformat, erschwinglich für fast jedermann. Anstelle einer Metallplatte, auf der bisher einzelne Bilder in grossen Dimensionen produziert worden waren, verwendete Disdéri ein Glasnegativ, das pro Aufnahme ein Dutzend Abzüge in der Grösse einer Visitenkarte lieferte. Für ein Fünftel der bisherigen Kosten konnte der Fotograf so plötzlich ein Vielfaches an Bildern produzieren, und während also die Preise sanken, stieg die Zahl der Konsumenten: Immer mehr Menschen liessen nun Porträtbilder von sich anfertigen.

Disdéri blieb der Star der Szene - selbst Napoleon III. soll sich in seinem Atelier fotografiert haben lassen –, doch um die große Nachfrage zu befriedigen, entstanden rasch auch neue Geschäfte. In Paris wie anderswo schossen die fotografischen Ateliers geradezu aus dem Boden, eine veritable Porträtmanie erfasste halb Europa.

Jeder Soldat wird unsterblich
Die Fotografie hat sich zu einer Zeit entwickelt, da der Kontinent eine relativ lange Friedensperiode erlebte. Doch die Begeisterung für das Medium riss auch mit dem Krieg nicht ab: Als 1870 erstmals seit den Napoleonischen Kriegen wieder auf französischem Boden gekämpft wurde, konnten die Fotografen ihre Ateliers weiter betreiben – nur die Klientel war jetzt eine andere. An vielen Orten traten nun preußische Soldaten in die Geschäfte und ließen sich in ihren Uniformen ablichten. War früher nur Staatsmännern oder wichtigen militärischen Figuren die Ehre eines gemalten Porträts zuteil geworden, konnte sich nun dank der neuen Technik jeder Kriegsteilnehmer auf einem Bild unsterblich machen.

Preussischer Offizier und preussischer Soldat auf
Portraitbildern, die während des Deutsch-Französischen
Krieges in Beauvais entstanden
Nicht wenige Soldaten kauften dazu auch Fotos von der Umgebung und erwarben Aufnahmen von Kriegsschauplätzen, Waffenarsenalen oder Sehenswürdigkeiten. Gemäß den Memoiren eines Veteranen hat sich während des Waffenstillstands gar eine "auf den Verkauf an die deutschen Eindringlinge berechnete besondere Industrie" entwickelt, die sich auf Fotografien von deutschen Stellungen spezialisierte. Denn für diese "Andenken" bezahlten die Soldaten besonders viel.

Damit, was wir heute unter "Kriegsfotografie" verstehen, hatten diese frühen Bilder wenig zu tun. Zwar sind Fotografen schon kurz nach Daguerres Erfindung mit ins Feld gezogen und haben den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg (ab 1846) genauso begleitet wie den Krimkrieg (ab 1853) und den amerikanischen Bürgerkrieg (ab 1861). Ihre Aufnahmen stammten aber kaum je direkt von der Front; sie zeigten die Kämpfer nie in Aktion und lieferten keine Momentaufnahmen von Gefechten. Dazu war die fotografische Technik damals schlicht nicht in der Lage: Obwohl sich die Belichtungszeiten zusehends verkürzten, betrugen sie noch immer mehrere Sekunden – Menschen in Bewegung waren so unmöglich einzufangen, nur starre Szenen kamen als Sujets infrage.

Auch reproduzieren ließen sich die Bilder nicht beliebig. Der Fotodruck, der die massenhafte Wiedergabe in Zeitungen ermöglichte, war erst um die Jahrhundertwende kostengünstig verfügbar. Daher gilt gemeinhin der Erste Weltkrieg als derjenige Konflikt, in dem fotografierte Bilder erstmals in großem Stil zum Einsatz kamen. Doch auch wenn ihre Möglichkeiten um 1870 noch vergleichsweise bescheiden waren, spielte die Fotografie im Krieg von 1870 keine unbedeutende Rolle.

Die Nation zusammenschweißen
Aufseiten der Deutschen war sie namentlich für die private Kommunikation von Belang, wie der Historiker Frank Becker in verschiedenen Studien zum Thema betont. Die Bilder, die die Soldaten von Stellungen kauften oder von sich selbst schießen ließen, gelangten oft auf direktem Weg zu den Liebsten nach Hause. Die Feldpost übermittelte die Fotografien an Eltern, Ehefrauen oder Kinder, und die Sendungen setzten die Angehörigen über mehrere Dinge ins Bild: Die Daheimgebliebenen konnten sich nicht nur vom Wohlbefinden "ihres" Soldaten überzeugen, sondern erstmals auch mit eigenen Augen den Kampfplatz sehen.
Schlachtfeld bei Metz

Die durch die Fotografie vermittelte Teilhabe am Krieg festigte einerseits die private Verbindung, sie unterstützte andererseits aber auch ein politisches Ziel der Preußen: Während die Politiker mit dem Krieg darauf hinarbeiteten, Deutschland zu einem geeinten Nationalstaat zu formen, tat die Kriegsfotografie das Ihre, um Zivilisten und Kämpfer zu einer Gemeinschaft zu verschmelzen.

Dank den Fotografien war gewissermaßen ganz Deutschland im Feld, und nach dem Ende des Krieges bewahrten die Bilder die geteilte Erinnerung an eine große Zeit. Wie ein "köstliches Kleinod" habe er eine Fotografie seines Regiments behandelt, hielt ein Unteroffizier im Rückblick fest. Immer wieder habe er die Preziose daheim "hervorgeholt und Bekannten gezeigt" - und dies, obwohl er doch eigentlich nur "das bartlose Bürschchen im Hintergrunde war".

Ein Souvenir von den Ruinen
Wie die Erinnerung hängt auch die Fotografie vom Blickwinkel ab. Insofern erstaunt es wenig, dass die unterlegenen Franzosen ganz andere Bilder von diesem Krieg produzierten. Porträts gab es natürlich auch auf dieser Seite, aber daneben stand hier die Anklage im Zentrum: Anstatt sich auf den Bildern wie die Preußen in die Brust zu werfen, zeigten die Franzosen in ihren Fotografien quasi mit dem Finger auf die "Barbarei" des Gegners.

Zu Beginn, als sie noch siegesgewiss waren, schenkten die Franzosen dem Charakter des Feindes wenig Beachtung. Je klarer sich jedoch die Schmach abzeichnete, desto stärker wurde die deutsche "Niedertracht" angeprangert. Das lässt sich insbesondere in der Publizistik verfolgen, es wurde aber eben auch in Bildern deutlich. Für Empörung sorgte etwa die Fotografie eines Franc-tireur, den die Preußen laut Aussage eines Bauern bei lebendigem Leibe verbrannt hatten, oder die Aufnahme von zwei Kindern, die von deutschen Bomben umgebracht worden waren.

Dieser politisch motivierte Zugriff auf die Fotografie verstärkte sich weiter, als Frankreich 1871 in den Bürgerkrieg schlitterte. Die Aufständischen, die in der Pariser Kommune eine autonome sozialistische Verwaltung aufbauten und gegen die konservative Führung der neuen Republik revoltierten, ließen sich zuweilen stolz vor nieder gerungenen Monumenten der alten Zeit ablichten. Später freilich dienten dieselben Bilder den Behörden dazu, flüchtige Kommunarden zu identifizieren. Und auch gefälschte Bilder ließen in dem aufgeheizten Klima nicht auf sich warten: Fotomontagen, auf denen angeheuerte Schauspieler Verbrechen der Revolutionäre inszenierten, sollten den Ruf der Kommune schädigen.

Vor allem aber rückten nun die Ruinen des zerstörten Paris vor die Kameras der Fotografen. Die von der Regierung beschossene und von den Kommunarden niedergebrannte Stadt wurde zum Sujet etlicher Fotoalben. Die Fotografie fungiere als "Zeugin" des Albtraums, aus dem Frankreich gerade erwache, hielt ein Album fest, und selbstverständlich wurden die fotografischen "Belege" nicht unabhängig von der Schuld an dem Zerstörungswerk betrachtet, die man je nach politischem Temperament dem einen oder dem anderen Lager zuschrieb.

Wobei: Einige Menschen dürften durchaus ohne politischen Groll auf die Bilder der Ruinen geblickt haben – viele ausländische Touristen kauften die Fotos nämlich als Souvenirs. Ab März 1871 bot Thomas Cook interessierten Engländern geführte Ruinentouren an; es wurden Prospekte publiziert, die die Besucher durch die zerstörten Stätten lotsten, und natürlich gab es allenthalben auch Fotos von den Ruinen zu kaufen. Auch der findige André Adolphe-Eugène Disdéri war wieder mit im Geschäft: Von ihm stammen einige der berühmtesten Bilder der Kommune, und durch die Pariser Ruinen zog er professionell ausgerüstet mit einem Fotowagen.

Dass die Aufnahmen des Mannes, der die Fotografie erschwinglich gemacht hat, heute zum Teil für hohe Summen versteigert werden, ist nur eine Ironie dieser Geschichte. Disdéri selbst verprasste in der Folge sein ganzes Geld, und während Frankreich in den späteren 1870er Jahren allmählich wieder auf die Beine kam, versank der Fotograf im Elend. 1889 starb er im Armenasyl. Die Popularisierung der Fotografie aber, die Disdéri angestossen hat, ist bis heute zu keinem Ende gekommen.

Claudia Mäder



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